20. Dezember




Unser Adventskalender soll die Wartezeit bis zum Weihnachtsfest verkürzen und die Vorfreude auf ein besinnliches Fest steigern.

20. Dezember

Beitragvon Cerberus » 20.12.2011, 00:00

Eingesandt von Ursula

Familie Rotkehlchen oder Meine kleinen Freunde

An diesem tristen Morgen im März 2006 liegt Friedhelm auf der Couch, sein Blick wandert zum Fenster, über das Balkongeländer hinweg zum endlos weiten grauen Himmel.
Draußen ist es heute ebenso trüb, wie schon seit Jahren in seiner Seele. Er klagt nicht. Er klagt überhaupt nie. Seine Frau versichert ihm des Öfteren, er sei in ihren Augen ein
Held. Er kommt sich nicht vor wie ein Held, eher wie ein Depp. Seit Jahren fühlt er sich wie ein Klotz am Bein seiner Frau.
Er denkt zurück, an glückliche Zeiten, als sie beide noch selbständig waren, zwar sehr viel gearbeitet hatten, aber ansonsten ein schönes, harmonisches und abwechslungsreiches Leben geführt hatten mit ihrem kleinen Sohn. Bis..........
er unmittelbar nach seinem 50. Geburtstag einen schweren Hinterwandinfarkt bekam. Einfach so, aus heiterem Himmel. Es sollte nicht der letzte sein.
Ziemlich genau ein Jahr später folgte der zweite, nicht weniger schwere Infarkt.
Während dieses Krankenhausaufenthaltes baten die Ärzte dann ihn und seine Frau zu einem gemeinsamen Gespräch, um die folgenschwere Diagnose " Lungenemphysem“
mit ihnen zu besprechen. Das war im Jahre 1996. Ein langsam schleichender, grauenvoller Erstickungstod würde irgendwann sein Leben beenden.

Ein kleines zartes Vögelchen unterbricht in diesem Augenblick seine traurigen Gedanken. Es sitzt auf dem Balkongeländer und beobachtet ihn. Bei genauerem Hinschauen
erkennt er das Rotkehlchen. Es hüpft nun aufgeregt hin und her, und guckt recht neugierig durchs Fenster in die Wohnung. In diesem Zimmer ist das Fenster Tag und Nacht
gekippt, damit Friedhelm stets frische Luft hat.
Plötzlich traut er seinen Augen nicht,....das vorwitzige Vögelchen sitzt oben auf dem geöffneten Fenster und nimmt aufmerksam den Raum in Augenschein. Fast zehn Minuten sitzt es auf seinem Beobachtungsposten, bis es mit leisem Piepsen davon fliegt. Schade... denkt Friedhelm.

Zu seiner Freude sitzt das Rotkehlchen am nächsten Tag früh morgens wieder auf dem Geländer, tanzt nervös hin und her, bezieht Posten auf dem Fenster und guckt
und guckt. Es scheint ihm zu gefallen was es sieht, denn nun fliegt es ins Zimmer, dreht zwei große Runden und landet auf der geöffneten Tür des Nebenzimmers.
Von hier aus lässt sich alles natürlich viel besser betrachten. Etliche Minuten später fliegt es elegant durchs schräge Fenster nach draußen und ist verschwunden.

Wie nett, denkt Friedhelm. Ob ich wohl morgen wieder Besuch bekomme?
Es war eine angenehme Abwechslung in seinem eintönigen Dasein. Heute im Morgengrauen hatte seine Frau ihn liebevoll versorgt und dann um 5.15 das Haus verlassen.
Die Stunden, bis sie zurückkam wollten einfach nicht vergehen. Seine Trauer und sein Schmerz wurden deutlich kleiner, wenn sie zu Hause war. Stets hatte sie gute Laune,
immer ein warmes, liebes Lächeln im Gesicht und gab ihm somit Zuversicht und Kraft. Bald waren sie dreißig Jahre verheiratet, er wusste dass sie ihm ihren eigenen Kummer
schon lange nicht mehr zeigte, um ihn nicht zu belasten.
Nachdem sie das letzte eigene Geschäft Anfang 2004 geschlossen hatte, bot man ihr eine leitende Stellung an und sie hatte zugesagt.
Acht Stunden Arbeit und täglich 70 km Fahrt...er fragte sich oft, wie sie das schaffen konnte, denn er, Friedhelm musste gepflegt und versorgt werden und dann gab
es ja auch noch den Sohn, der seine Mama ab und zu für sich beanspruchte. Der Junge kam ohnehin viel zu kurz.

Friedhelm setzt sich mühsam auf, er muss seine Medikamente zurechtmachen. 15 verschiedene Tabletten und Sprays , Beatmungsgerät, Sauerstoffgerät, Rollstuhl,
das ist in den letzten Jahren sein Leben. Wie damals versprochen, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zunehmend. Er befindet sich im Endstadium,
seit drei Jahren austherapiert.

Am nächsten Morgen ist der Himmel strahlend blau und die Sonne scheint.
Friedhelm wartet insgeheim auf das Rotkehlchen und wird auch nicht enttäuscht. Doch heute ist es nicht allein, sondern zu zweit. Dasselbe Prozedere wie gestern und vorgestern. Er weiß nur nicht genau,... bringt jetzt ER seine Gattin mit zur Besichtigung, oder SIE ihren Gatten ?? Das Pärchen dreht eine Runde durchs Zimmer und sie oder er setzt sich keck und mutig auf die Couchlehne zu Friedhelms Füßen nieder. Er wagt nicht, sich zu rühren, um bloß nicht das Vögelchen zu erschrecken.
Derweil der andere Piep Matz die bis unter die Decke reichende Schrankwand inspiziert. Es ist ganz offensichtlich, die beiden sind auf Wohnungssuche!!
Ein munteres Flöten aus dem obersten offenen Regal lockt den Pieper zu Friedhelms Füßen nun auch dort hin, gemeinsam tippeln sie geschäftig hin und her,
blicken mit schief gehaltenem Köpfchen vom Rand aus auf den Boden und zur Zimmerdecke.
Friedhelm beobachtet sie amüsiert und denkt gerade, dass die beiden sich die Entscheidung wirklich nicht leicht machen, ob sie nun diese Wohnung anmieten sollen,
oder nicht, als sie durchs Fenster verschwinden. Jetzt war er tatsächlich gespannt auf morgen.
Als später seine Frau nach Hause kam, hatte er endlich auch mal was zu erzählen.

Am folgenden, sehr frühen Morgen, begann das geflügelte Liebespärchen mit der Wohnungseinrichtung. im obersten Stock. Flink flogen sie ein und aus,
jedes Mal, wenn sie kamen hatten sie die winzigen Schnäbelchen voller kleiner Reisigzweiglein, Halmen, Wurzelwerk und Erdbröckchen. Sie taten das mit einer
Ausdauer und einem Fleiß, dass Friedhelm sicher erstaunt gewesen wäre, hätte er sie nur beobachten können. Doch er bemerkte nichts von all dem.
Er litt seit mindestens einer halben Stunde an einem schweren Erstickungsanfall, hatte Todesangst. Und war ganz allein.
Der Anfall ebbte ab und er war total erschöpft, unfähig sich zu bewegen.

Erst gegen Mittag hatte Friedhelm sich soweit erholt, dass er sein Umfeld wieder wahrnehmen konnte, und nun sah er auch das rege Treiben seiner
lieben Besucher. Die beiden kleinen Pieper schufteten bis ca. 17.00, dann machten sie Feierabend.
So ging es nun täglich, von früh bis spät nachmittags arbeiteten sie an ihrem Nest, zwei Wochen lang.
Friedhelm hatte seine Freude an den beiden, blieben sie doch nun den ganzen Tag und boten eine wunderschöne Abwechslung. Auf und um den Fernseher
herum, sah es allerdings aus, als stünde dieser im Wald!
Als das Nest fertig war, kamen sie nicht mehr. Zuerst bekam Friedhelm einen kleinen Schreck, doch dann dachte er sich, dass die beiden sich wohl zum Paaren
zurückgezogen haben. Eine knappe Woche blieben sie fern, dann kam SIE und machte es sich im Nest gemütlich und zwar für beinahe drei Wochen.
Ihr Liebster kam mehrmals täglich auf ein Schwätzchen vorbei und versorgte sie rührend mit Nahrung.
Eines Tages hörte Friedhelm ein ganz leises zaghaftes Fiepen. Das erste Junge war also geschlüpft.
In den nächsten Tagen folgten noch zwei weitere Rotkehlchenbabys. Nun war die 5-köpfige Familie komplett.

Die Eltern hatten alle Schnäbel voll zu tun, ihre Kleinen satt zu bekommen, unermüdlich flogen Mama und Papa aus um Nahrung zu beschaffen.
Dann kam ein Tag, an dem Friedhelm sehr besorgt war. Eins der Kleinen turnte oben auf dem Nest Rand herum ,was er befürchtete trat dann auch ein.
Der Minipiepmatz plumpste aus dem Nest und flatterte aufs Parkett, wo er ziemlich verdutzt und mit wild klopfendem Herzchen erst mal hocken blieb.
Langeweile mochte der nicht! Jetzt machte er sich zu Fuß auf Wanderschaft, quer durchs Wohnzimmer.

Friedhelm war froh, als seine Frau kam und den Winzling wieder ins Nest setzte. Doch der Winzling hatte andere Pläne, zack war er wieder auf dem Boden.
Ein Telefonat mit einem privaten Vogelzüchter brachte Aufklärung. Der Kleine war ein Nestflüchtling, es hatte keinen Sinn ihn nochmals hineinzusetzen.
Sie sollten das Nest komplett auf den Balkon legen, die Eltern würden die kleinen dort versorgen , bis sie sicher fliegen können.
Friedhelm, der nicht mit solch plötzlichem Abschied gerechnet hatte, war beinahe ein wenig traurig, seine gefiederten Freunde zu verlieren.

Sie hatten Leben und Freude in seine trostlosen Tage gebracht.

Friedhelm hat die Brutzeit der Rotkehlchen im darauffolgenden Jahr 2007 nicht mehr erlebt.
Cerberus
 

von Anzeige » 20.12.2011, 00:00

Anzeige
 


Ähnliche Beiträge

23. Dezember
Forum: Es weihnachtet sehr 2011
Autor: Anonymous
Antworten: 0
9. Dezember
Forum: Es weihnachtet sehr 2011
Autor: Anonymous
Antworten: 0
19. Dezember
Forum: Es weihnachtet sehr 2011
Autor: Anonymous
Antworten: 0
1. Dezember
Forum: Es weihnachtet sehr 2011
Autor: Anonymous
Antworten: 0
14. Dezember
Forum: Es weihnachtet sehr 2011
Autor: Anonymous
Antworten: 0

Zurück zu Es weihnachtet sehr 2011

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron